Niki de Saint Phalle


1930-2002

Niki de Saint Phalle (1930-2002) war eine französische Malerin und Bildhauerin der Moderne, die besonders durch ihre “Nana”-Figuren bekannt wurde.



Lebenslauf

Catharine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle wurde am 29. Oktober 1930 in Paris geboren und wuchs in New York auf. Ihre wohlhabende Familie verarmte während des Börsenkrachs 1929. Ihre Kindheit war nicht nur von diesem Ereignis geprägt: Ihr Vater missbrauchte die 11-jährige Niki. Mit 18 floh sie von zuhause und heiratete, aus der Ehe entstanden zwei Kinder. 1952 zog sie nach Paris, wo sie später zahlreiche Künstler*innen kennen- und lieben lernte. Während eines Klinikaufenthaltes 1953 begann sie als Therapie zu malen und entschloss sich, der Kunst ihr Leben zu widmen. Nach ihrer Scheidung in 1960 kreierte sie ihre ersten Performances mit Tirs und wurde bei den Nouveau Réalistes, einer Künstler:innengruppe, die sich in den 60er Jahren in Paris formierte, als erste Frau aufgenommen. 1965 entstanden ihre berühmten Frauenskulpturen, die Nanas. Mit der begehbaren Hon (1966), erreicht sie mit ihrem Lebenspartner, mit dem sie über Jahre kollaborierte, weltweite Aufmerksamkeit. Ab 1978 arbeitete sie an dem Garten des Tarots, einem Kunst-Park in der Toskana, voll mit ihren Skulpturen. Ab 1982 wohnte sie sogar in einer ihrer Figuren, der Hohepriesterin.
Sie setzte sich während ihrer Karriere aktiv gegen die Stigmatisierung von AIDS-Kranken ein und veröffentlichte Ende der 80er Jahre das Buch AIDS: You Can’t Catch It Holding Hands. 1993 zog die Künstlerin aus gesundheitlichen Gründen nach Kalifornien. Ihre Arbeit mit verschiedenen giftigen Materialien hattn ihre Lungen stark geschädigt. Sie arbeitete bis zu ihrem Tod, dem 21. Mai 2002, weiter.1

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Werk

Durch ihre Schiessbilder, die sogenannten Tirs, brachte sie eine aggressive Version destruktiver Kreativität hervor. Saint Phalle gestaltete Assemblagen aus gefundenen Objekten, Objet Trouvés, also gefundenen Gegenständen, und eingebauten Farbbeuteln, die mit Gips überzogen und weiss übermalt wurden. Die Künstlerin schoss mit einem Kleinkalibergewehr auf die Bilder, wodurch die Farbbeutel aufplatzen und durch die herabfliessende Farbe den Anschein erweckten, als würden die Bilder bluten.2 In diesen Werken hatte die Dekonstruktion einen autobiographischen Ursprung: Sie rechnete mit allen gesellschaftlichen Bedingungen und Gewaltstrukturen ab, die sie als krank machend empfand, seien dies ihr Vater, die Kirche oder sie selbst.3 Sie äusserte sich dazu folgendermassen: «1961 schoss ich auf: Papa, alle Männer, (…), die Kirche, den Konvent, die Schule, meine Familie, (…), mich selbst, auf Männer. (…) Es war ein Moment skorpionischer Wahrheit. Weisse Reinheit. Opfer. Schussbereit! Zielen! Feuer! (…) – das Gemälde weint, das Gemälde ist tot. Ich habe das Gemälde getötet. Es ist wiedergeboren. Krieg ohne Opfer.»4 Diese Aussage lässt sich als inszenierte Kampfaussage deuten. An ihren schmerzhaften Missbrauchserfahrungen besteht kein Zweifel und es ist auch nicht die Absicht, diese als Inszenierung darzustellen. Ihre Werke waren vielmehr präzise gestaltet, nichts deutete auf ein einfaches, wütendes Mädchen hin. Darum war ihr vermutlich sehr bewusst, welche Gefahr sie als weibliche Künstlerin, die ihre Bilder durch eine Waffe bluten lässt, für die männlich dominierte Kunstwelt ausstrahlte.5 Sie entwickelte ihre Schiessbilder zu einer Performance weiter, die fast schon einen rituellen Charakter annahm. Diese Schiessaktionen erweckten die Neugier der Schaulustigen und wurden schnell zu einem echten Spektakel. 1961 konnte man in der Galerie J bei der Ausstellung Feu à volonté sogar als Besucher:in auf die Bilder schiessen. Dieses Projekt lag Niki de Saint Phalle sehr am Herzen, denn sie wollte, ganz dem Gedankengut des Nouveau Réalisme folgend, Kunst in die Gesellschaft integrieren und die Schwelle zwischen Bild und Betrachter:in abbauen.6
Die Schiessaktionen erregten aber nicht nur Aufsehen, sondern sorgten für einen regelrechten Skandal, der von Saint Phalles Seite gut kalkuliert wurde. Dieser Tabubruch, der sich auch auf die gesellschaftlichen Normen bezieht, ist Teil ihres Inszenierungsrepertoires.7  «She is not really such a bad shot – for a woman. In fact, she is a very attractive shot.»8, solche Kommentare, wie diese aus dem Artforum von 1964 waren nicht selten. Wie so oft, wenn eine Frau in einem männerdominierten Umfeld auftaucht, wurde auch Niki de Saint Phalle kritisiert, belächelt und wurde zum Objekt des männlichen Blickes, dem male gaze, mit dem Saint Phalle später zu spielen lernte.

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Historischer Kontext

Die 1960er waren im Westen geprägt von dem Vietnamkrieg, Studierendenbewegungen und der sexuellen Revolution, die Dank der Verbreitung der Antibabypille ihren Aufschwung bekam.

Durch die neuen Bürger:innenrechts- und Hippiebewegungen wurden auch feministische Stimmen laut und die zweite Welle der Frauenbewegung begann sich zu formieren. Diese autonome Bewegung war weitgehend Länder- und Parteiunabhängig. Dabei stand die Frauenbefreiungsfrage im Vordergrund. Sie unterlag der These, dass Sexismus, die grundlegendste Form menschlicher Unterdrückung sei. Eine grundlegende Veränderung in allen Bereichen des Lebens und Denkens müsste erreicht werden, denn trotz rechtlicher «Gleichheit» wurden Frauen sowohl in westlichen Industrieländern wie auch in sozialistischen Regierungsformen unterdrückt und benachteiligt.9

Der Alltag der Frauen war immer noch von Männern dominiert, den Alleinherrschern über die Familie. Frauen brauchten die Erlaubnis der Ehemänner, um zu arbeiten, Geschlechtsverkehr gehörte zu den ehelichen Pflichten. Unehelich Kinder bedeuteten für die Frau Rufmord. Gewalt innerhalb von Beziehungen war jedoch Privatsache, von gleichen Rechten und Löhnen in der Arbeitswelt war nicht die Rede.10 Bisher private Themen wurden zum Mittelpunkt feministischer Diskussionen: «das Private ist politisch».11

Frauen wurden aktiv und starteten überall Aktionen, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Ob in Buchform wie Der Weiblichkeitswahn (1963) von Betty Friedman, mit brennenden BHs oder Demonstrationen: die Grundsteine wurden für die zweite Welle gelegt, entwickelten sich in den 1970er Jahren weiter und ermöglichten neben einer feministischen Gegenkultur auch einen neuen, feministischen Zugang zu der Kunstwelt.12

Nouveau Réalisme

Die Nouveau Réalists waren eine in den 1960er Jahren in Paris gegründete Künstler:innenbewegung, die auf eine Annäherung der Kunst an das Leben abzielte.

Niki de Saint Phalle war die erste und offiziell einzige Frau der Gruppe. Laut den Nouveau Réalists sollte die Kunst ihre Gegenstände neutral walten, ihnen war die Realität wichtiger als die Gefühlsbetontheit der abstrakten Kunst. Die Gruppe arbeitete mehrheitlich mit neuen Techniken und Materialien, verwendete bereits vorhandene Objekte in ihren Werken oder experimentierten mit Collagen. Dabei gab es keinen uniformen Stil der Künstler:innenbewegung, sie orientierten sich aber an den gleichen Ideen, die sie noch nach der Auflösung der Gruppe in den 70er Jahren weiter beeinflussten.13



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Weiterführende Literatur

1 http://nikidesaintphalle.org/niki-de-saint-phalle/biography/, 13.04.2021.

2 Sieg Caroline, Von der Assemblage zur Performance. Partizipation und Inszenierung bei den Schiessbildern von Niki de Saint Phalle, in: Ich bin eine Kämpferin. Frauenbilder der Niki de Saint Phalle, Berlin: Hatje Cantz 2016. 105-106.

3 Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie. Heilsbringer. Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln: Deubner Verlag für Kunst, Theorie & Praxis 2007. 159-160.

4 Sieg Caroline, Von der Assemblage zur Performance. Partizipation und Inszenierung bei den Schiessbildern von Niki de Saint Phalle, in: Ich bin eine Kämpferin – Frauenbilder der Niki de Saint Phalle, Berlin: Hatje Cantz 2016. 109.

5 Tripp Andrew H., “In sorrow, she created delight”: An Appeal for a Greater Appraisal of the Life and Art of Niki de Saint Phalle,  Chicago: DePaul University 2013, 8.

6 Sieg Caroline, Von der Assemblage zur Performance. Partizipation und Inszenierung bei den Schiessbildern von Niki de Saint Phalle, in: Ich bin eine Kämpferin – Frauenbilder der Niki de Saint Phalle, Berlin: Hatje Cantz 2016, 111.

7 Laferl Christopher F, Tippner Anja, Zwischen Authentizität und Inszenierung: Künstlerische Selbstdarstellung im 20. und 21. Jahrhundert, in: Künstlerinszenierungen – performatives Selbst und biographische Narration im 20. Und 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2014, 25.

8 Carrick Jill, Nouveau Réalisme, 1960s’ France, and the Neo-avant-garde. Topographies of Chance and Return, Farnham: Ashgate, 2010, 715.

9 Schneider Beat, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Sozialgeschichtlich und patriarchatskritisch, Bern: Zytglogge Verlag 1999, 423-424.

10 https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_sys/gleichstellung/Der_Ritt_auf_der_Schnecke, 13.04.21.

11 Schneider Beat, Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte, Sozialgeschichtlich und patriarchatskritisch, Bern: Zytglogge Verlag 1999, 423-424.

12 https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/frauenbewegung_der_kampf_fuer_gleichberechtigung/index.html, 13.04.21.

13 Hodge Susie, Die Künstlerinnen.  Werke aus fünf Jahrhunderten, Berlin: Laurence King Verlag 2020, 36.

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Cathedrale du mangeur d’enfant / Petite Cathédrale,
1962, Assemblage, 63 x 67 cm

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